RAUM FÜR UNERLEDIGTE GESCHICHTE(N)
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Wer dabei mitmacht
NS und Separatismus
Johannes Hoffmann
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Hambach und Demokratie
100 Tage "Autonome Pfalz"
N.N.

Ein Attentat im Staatsauftrag


Bayern und Pfalz in den Krisenjahren der Weimarer Republik


Sonntag abends, 6. Januar 1924. In einer Münchner Anwaltskanzlei treffen sich etwa 20 junge Männer. Allesamt gehören sie rechtsradikalen Kampfverbänden an, die seit dem Hitlerputsch vom November 1923 zum Teil verboten sind.
Mit dem Inhaber der Kanzlei, Rechtsanwalt Dr. Otto Leibrecht, und dessen Freund und Anwaltskollegen Dr. Edgar Jung, besprechen sie allerdings keine juristischen Fragen. Sie erhalten von den beiden Anwälten vielmehr Instruktionen zur Durchführung eines politischen Attentats. Ein Attentat, das die jungen Männer im  Auftrag des bayerischen Staates im Stile einer militärischen Kommandoaktion  durchführen sollen. 

Zielpersonen sind die Mitglieder einer separatistischen Putschregierung in der Pfalz, damals Bayerns ferne Provinz am Rhein. In den Wirren des Krisenjahres 1923 hatte sich dort wie auch in anderen Teilen des gemäß Versailler Vertrages besetzten linksrheinischen Deutschlands eine separatistische Bewegung gebildet. Im Gegensatz zum nördlichen Rheinland schien sich die Autonome Pfalz auch dank Unterstützung durch die französische Besatzungsmacht seit November 1923 dauerhaft festzusetzen. Ihr Chef, der charismatische Bauernführer und DVP-Politiker  Franz Josef Heinz aus dem nordpfälzischen Orbis, konnte sich auf mehr Rückhalt in der Bevölkerung stützen. Auch hielt sich durch die politische Rechtsentwicklung im Bayern des Generalstaatskommissars von Kahr die Lust der organisierten pfälzischen Arbeiterschaft für eine Zugehörigkeit zu Bayern zu streiten in Grenzen. So konnte die Regierung Heinz von der Kreishauptstadt Speyer aus sich weit gehend der inneren Verwaltung bemächtigen und die Anerkennung der Autonomen Pfalz durch die meisten pfälzischen Landgemeinden erreichen. Gegen Jahresende 1923 allerdings drehte die politische Großwetterlage. Frankreich willigte in die Daweskommission ein, die Einführung der Rentenmark besiegte die Inflation. England verstärkte den Druck auf Frankreich, die Separatisten fallen zu lassen. In dieser Situation wurde im Pfalzkommissariat der Bayerischen Staats-regierung der Plan geschmiedet, das Problem Autonome Pfalz durch physische Vernichtung ihres Führungspersonals aus der Welt zu schaffen.
 
Heinz und seine Regierungsmitglieder wohnten in Speyer im Hotel „Wittelsbacher Hof“ und pflegten allabendlich in aller Öffentlichkeit und ohne militärischen Schutz zu speisen. Ein Stoßtrupp sollte sie dabei überfallen und möglichst alle töten. Mit der Vorbereitung und Planung der Aktion wurde Edgar Jung betraut. Während des passiven Widerstandes ab Frühjahr 1923 hatte der junge Anwalt, Weltkriegs-teilnehmer und Freikorpskämpfer aus den Reihen der pfälzischen DVP-Jugend einen Pfälzischen Kampfbund rekrutiert, dessen erklärtes Ziel es war, die Franzosen aus der Pfalz zu werfen. Über Kurier- und Nachrichtendienste kam die Organisation aber kaum hinaus. Vor allem auch weil die wichtigsten Führungsfiguren wie Edgar Jung selbst schon im Sommer aus dem besetzten Gebiet ausgewiesen wurden und von Heidelberg aus operieren mussten. Vom pfälzischen Kampfbund ging weder eine Gefahr für die Franzosen aus, noch konnte er einen nennenswerten Widerstand gegen die separatistische Eroberung der Pfalz organisieren. Auch jetzt bei der Kommandoaktion gegen die Separatistenregierung war von vorneherein klar, dass die Hauptakteure des Unternehmens aus erprobteren Kreisen angeheuert werden mussten.

Über die nötigen Verbindungen verfügte Jungs Freund Otto Leibrecht. Ebenfalls aus der Pfalz stammend und über Weltkriegserfahrung verfügend, hatte er sich schon seit längerem in München als Anwalt niedergelassen. Er wurde fündig in der Holzhandlung des Kapitän Ehrhardt, auch Consul genannt. Ehrhardt hatte 1920 in Berlin mit seiner Freikorps-Brigade die Kerntruppe beim Kapp-Putsch geführt und konnte danach trotz Haftbefehl des Reichsgerichts in München in aller Seelenruhe als Holzverwertungsgesellschaft getarnt seine Getreuen sammeln und eine neue Organisation aufbauen, die als Wikingbund firmierte. Er stellte das Erschießungskommando. Weitere Kommandomitglieder  wurden in den Reihen des Bundes Oberland und der SA gefunden.

Am 9. Januar 1924 gegen 21.30 Uhr fallen zum Entsetzen der Gäste im voll besetzten Speisesaal des „Wittelsbacher Hofes“ die geplanten Schüsse. Getötet werden Franz Josef Heinz, ein zufällig anwesender Separatist aus Trier und ein Gast von Heinz, der politisch nichts mit den Separatisten zu tun hat. Ein weiterer Mann, zufällig am Separatistentisch sitzend, wird verletzt. Auch der Rückzug verläuft nicht ganz nach Plan. Vor dem Hotel, wo Otto Leibrecht den Sicherungstrupp führt, kommt den Attentätern ein bewaffneter Separatist in die Quere. Edgar Jung und der Separatist werden verletzt, zwei weitere Kommandomitglieder getötet, einer von beiden durch „friendly fire“.  Ansonsten gelingt es der Truppe, die mit gefälschten Pässen einzeln von Mannheim zu Fuß über die Rheinbrücke ins besetzte Gebiet eingesickert war, durch das nächtliche Speyer an den Rhein zu flüchten. Helfer aus dem Pfälzischen Kampfbund waren unter Führung Jungs mit Nachen über den Rhein gerudert um die Attentäter wieder ans sichere rechtsrheinische Ufer zu bringen. Dort harrten auch bayerische Staatsbeamte gespannt auf den Ausgang des Unternehmens.

In der Pfalz wurde das Attentat als „Gottesgericht“ an den Verrätern oder als „Tell-Schuss“ von Speyer gefeiert. Vor allem nachdem 1930 die Franzosen aus der Pfalz abgezogen waren. Aber ein Akt der Selbstbefreiung eines heldenmütigen treudeutschen Volkes war das Attentat von Speyer keineswegs. Die pfälzischen Separatisten wurden durch die politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen des Jahres 1923 vorübergehend an die Macht gespült und wurden auch politisch wieder aus ihrer Position entfernt. Die Gewaltakte gegen sie dienten den Franzosen eher noch als Trumpf, um die Rückkehr der bayerischen Kreisregierung aus ihrem Heidelberger Exil zu verzögern.

Die  beiden Strategen des Attentats erfuhren unterschiedliche Schicksale. Während Edgar Jung zu einem rechtskonservativen und antidemokratischen Vordenker der Weimarer Republik avancierte und als Ghostwriter Papens den Mordaktionen von Hitlers Gestapo im Juni 1934 zum Opfer fiel, konnte Otto Leibrecht seiner Rechtsanwalts-tätigkeit nachgehen bis er nach dem 20. Juli 1944 ebenfalls ins Visier der Gestapo geriet, aber in die Schweiz fliehen konnte. Nach dem Krieg führte er seine Kanzlei weiter und betätigte sich im Verband der Pfälzer in Bayern. Dort waren auch zwei weitere Beteiligte an der Attentatsaktion führend aktiv: Josef Zwißler und Heinrich Wüst. Beide gehörten zu den Pfälzern aus Jungs Organisation, die den Rückzug der Attentäter ermöglichten. Während der aus der Pfalz ausgewiesene Lehrer Zwißler in Heidelberg das Büro des Kampfbundes mit organisierte, war Heinrich Wüst noch Gymnasiast in Speyer gewesen. Er gehörte einer Unterorganisation des Kampfbundes, der Treuhand, an – meist Schüler, die Kurierdienste leisteten – und hatte sich im Dezember 1923 durch Flucht ins Rechtsrheinische der Verhaftung durch die Franzosen entziehen können. Er machte dann in  Würzburg das Abitur und studierte in München Bauingenieur. 1956 gehörten Wüst und Zwißler zu den Aktivisten für ein Volksbegehren in der Pfalz zur Wiederangliederung an Bayern. Diesmal konnten sie allerdings die Separation der Pfalz von Bayern nicht mehr rückgängig machen. Das Begehren scheiterte schon am Quorum.


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